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9 February 2024

Depressionen und Angehörige

Depressionen und Angehörige

Menschen mit Depressionen und ihre Angehörigen:
Anforderungen und Erfahrungen aus der hausärztlichen Praxis
Was hören wir, was sehen wir, was können wir tun?

Vortrag im Rahmen einer Video-Konferenz am 30.10.2020
Veranstalter: Fachtagung der AG Gender und Depression im Bündnis gegen Depression in der Region Hannover

Deine Krankheit macht mich krank

Die durchschnittliche Bindung eines/r Patienten/in an seine/n Hausarzt/ärztin hält in Deutschland inzwischen länger als die einer durchschnittlichen Ehe. Hausärzte betreuen im Konzept der Familienmedizin Einzelne wie ganze Familienverbände über bis zu 4 Generationen und oft über ihr ganzes eigenes Berufsleben. Sie kennen daher deren somatische und psychische Beschwerden sowie die sozialen und beruflichen Verhältnisse der meisten Familienmitglieder und können entsprechend (be)handeln.

Im Zusammenhang mit seelischen Störungen ergeben vorliegende Zahlen, dass 70% befragter Patienten bei einer Depression zuerst ihren Hausarzt aufsuchen würden, 5,1% den Psychiater, 3,4% einen Psychotherapeuten. Die AOK ermittelte im Jahr 2013, dass 84% ihrer Versicherten mit psychischen Störungen zuerst ihren Hausarzt aufgesucht hatten.
In einer großen Erhebung der Ersatzkassen litten 30% der Patienten an einer psychischen Störung, davon wiederum 43% an einer Depression. 
40% aller Depressionspatienten werden ausschließlich vom Hausarzt betreut. An einem beliebigen Stichtag leiden 11% der in einer Hausarztpraxis Behandelten an einer Depressiven Verstimmung.
Kurz: die Behandlung und Betreuung von depressiven Patienten findet in der hausärztlichen Praxis täglich statt. Nicht immer kommen die Betroffenen aber mit der richtigen Diagnose, sondern „mit der Eintrittskarte für die Praxis“, nämlich körperlichen Beschwerden, ausgelöst oder verstärkt durch die depressive Stimmungslage. Für den Hausarzt gilt es daher, hinter diesen im Vordergrund stehenden somatischen Störungen die psychische Situation als Ursache zu erkennen.
Dabei ist eine Depressive Störung fast immer als sogenannte Blickdiagnose erkennbar: der/die betroffene Patient/in kommt niedergedrückt, antriebslos, traurig gestimmt und oft wortkarg in das Sprechzimmer – jeder Arzt, der seinen Patienten gut kennt, wird hier die richtigen Fragen stellen und die weitere Diagnostik entsprechend einleiten.
Wie geht es dann weiter? Die Erstdiagnostik, ggf. auch mit einem Depressionstest, sowie die Erstbehandlung finden beim Hausarzt statt. Falls diesem die entsprechende Expertise fehlen sollte oder der Patient es wünscht, erfolgt die Überweisung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie oder zu einem Psychologischen Psychotherapeuten. 
Darüber hinaus kann der Hausarzt bei entsprechender Indikation und Zustimmung des Patienten mit einer Pharmakotherapie beginnen. 
Weitere Aufgaben der Hausärzte in der Betreuung psychisch Kranker bestehen in
-   Stützung von Patient und Angehörigen, Gesprächen im Rahmen der sog. „kleinen Psychotherapie“,
-   Langzeitbetreuung im häuslichen Umfeld oder ggf. im Pflegeheim,
-   langfristiger Verordnung der medikamentösen Versorgung,
-   Verordnung der sog. „Ambulanten häuslichen Krankenpflege“,
-   Verordnung von Sozio- und Ergotherapie,
-   Krankschreibung, Verordnung der Wiedereingliederung, Stellen der Anträge auf eine Psychotherapeutische Rehabilitationsmaßnahme, Anträge auf EU-Rente oder eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bzw. der Lösung anderer sozialer Fragen für den Patienten.

Nun ist die Familie eines Psychisch Kranken immer mitbetroffen. D. h., der Hausarzt wird sich auch um die seelischen, körperlichen oder sozialen Folgen der Angehörigen kümmern, die in der Regel ebenfalls seine Patienten sind.
Partner der Depressiv Erkrankten zeichnen sich durch eine Gemengelage eigener Gefühle aus: so sieht der Hausarzt eine Identifikation mit der Gefühls- und Belastungssituation des Betroffenen, dazu Schuldgefühle, Zukunftsängste, Geldsorgen, Angst vor dem Jobverlust des Kranken, der der Alleinverdiener sein kann, später Ärger und Wut durch die emotionalen, finanziellen und sozialen Folgen der seelischen Erkrankung des Partners, am Ende dann oft die akute Überlastungsreaktionen, wenn der gesunde Partner Alleinverdiener und Allein-sorgender für Kinder und Haushalt sein muss.
Was kann der Hausarzt hier tun: Stützen der gesunden Partner, insbesondere, wenn sie eine Mehrfach-Rolle einnehmen müssen; Vermitteln sozialer Hilfen, z. b. einer Haushaltshilfe auf Kassenkosten; Vermitteln einer Selbsthilfegruppe für Angehörige, Stellen eines Rehanantrages für die pflegenden Angehörigen. Sehr oft aber reichen bloßes Zuhören und Stützen!
Bei Geschwistern von Depressiven überwiegen Trauer, Ohnmacht, Schuldgefühle und Wut, oft auch die Angst, nach dem Tode der Eltern das psychisch kranke Geschwister pflegen oder aufnehmen zu müssen. Auch hier erfolgen durch den Hausarzt Anleitung zu mehr Selbstfürsorge und Distanz.
Bei der Betreuung von Kindern von Depressiven sollte der Hausarzt Schuldgefühle nicht übersehen und dabei helfen, zu vermeiden, dass die Anlage zu späteren eigenen Depressionen gelegt wird. Ggf. Vermittlung zum Pädiater oder Kinder- und Jugend-Psychiater – und Psychotherapetuten.
Bei der Betreuung von alten Menschen muss der Hausarzt immer auf Altersdepressionen achten, die sich oft hinter körperlichen Beschwerden oder einer vermeintlichen Dementiellen Entwicklung verbergen.
Daher werden diese heute vermehrt beobachtet und behandelt. Ursachen sind oft Traumata in der Vorgeschichte, z. B. noch im 2. Weltkrieg oder in der Nachkriegszeit. Bei Frauen oft sexuelle Übergriffe oder heimliche Schwangerschaftsabbrüche, die sich im Alter als Depressionen ihren Weg bahnen. Auch Alleinsein, chronische Schmerzen, schwere Erkrankungen und der Verlust des Partners oder von Freunden sind häufige Ursache für eine Altersdepression.
Der Hausarzt ist hier oft einziger und letzter Gesprächspartner zur Unterstützung und zum Trösten. Er hat aber auch die Aufgabe, die pflegenden Angehörigen, zumeist Töchter und Schwiegertöchter, zu stützen und vor Überlastung und Aufopferung zu bewahren. Die sinnvollste Entlastung wäre die Organisation von Pflegepersonen, ggf. die Ermunterung, einen guten Heimplatz zu suchen. Denn oft blühen die vereinsamten alten Menschen in einem guten Heim wieder auf!
Darüber hinaus kann der Hausarzt Rehaangebote für die pflegenden Angehörigen vermitteln, Tagespflegeplätze für die Erkrankten suchen, Nachtwachen besorgen und bei der Beantragung eines Pflegegrades zur finanziellen Absicherung der Pflegenden unterstützen.

Fazit: der Hausarzt/die Hausärztin sind erste Ansprechpartner im Gesundheitswesen sowohl für die an einer Depression Erkrankten als auch für deren Partner/innen, Kinder, 
Geschwister und pflegenden Angehörigen. Hausärzte hören hin und zu, beraten und sorgen für soziale wie medizinische Hilfe und Angebote. Durch die Kenntnis der sozialen und familiären Lebensumstände der Betroffenen sind sie prädestiniert für diese Aufgabe.