Die Behandlung depressiver Menschen in der Praxis
Medizinische und gesundheitspolitische Rahmenbedingungen
Autorinnen: Dr. Cornelia Goesmann, Dr. Astrid Bühren, Dr. Astrid Neuy-Bartmann
Zusammenfassung:
Obwohl depressive Störungen zu den häufigsten Erkrankungen in der Praxis niedergelassener Ärztinnen und Ärzte zählen, werden Betroffene in Deutschland nicht immer früh genug diagnostiziert und ausreichend therapiert.
Um die Versorgung Depressiver zu optimieren, erscheinen wesentlich die Bereitschaft der Hausärzte zum empathischen Führen und Begleiten dieser Patientengruppe, eine adäquate somatische Parallelbehandlung, eine Mitbetreuung durch Psychiater und Psychotherapeuten zur rechten Zeit sowie eine maßge- schneiderte, längerfristige Pharmakotherapie.
Politische Rahmenbedingungen, die sich krankheitsfördernd auswirken, gehören ebenso verändert wie unzureichende Gesprächs- und Behandlungsangebote. Modelle integrierter Versorgung im ambulanten Sektor erscheinen hier ausgesprochen Erfolg versprechend.
Schlüsselwörter:
Depressive Störungen
Hausärztliche Behandlung
Fachärztliche Therapie
Langzeitbetreuung und Rückfallprophylaxe
Gesundheitspolitische Rahmenbedingungen
Depressive Syndrome sind die häufigsten psychischen Erkrankungen bei Erwachsenen und werden in erster Linie ambulant behandelt.
Etwa elf Prozent aller Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland leiden an einer Depression. Frauen erkranken fast doppelt so häufig als Männer. Die meisten Betroffenen suchen zunächst hausärztliche Hilfe; nahezu Dreiviertel aller von Hausärzten diagnostizierten Depressionen werden auch auf dieser Versorgungsebene behandelt, in zehn Prozent der Fälle kommt es zu einer fachärztlichen oder psychotherapeutischen Mitbehandlung. Lediglich bei etwa 20 Prozent der Patienten erfolgt eine sofortige Überweisung ohne vorherige Intervention des Hausarztes. Weniger als 0,2 Prozent aller Depressionskranken werden stationär eingewiesen.
Fachärztlicherseits sind vor allem Nervenärzte, die Neurologen und Psychiater, Ärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie die ärztlichen Psychotherapeuten gefragt. Weiterhin wird die Versorgung von den psychologischen Psychotherapeuten mitgetragen.
Der Primat der hausärztlichen Versorgung auf diesem Gebiet zeigt sich darin, dass depressive Patienten im Vergleich zu den nicht-depressiven häufiger ihre Hausärzte als (ihre) Fachärzte konsultieren. In zwei Drittel der vermuteten Depressionsfälle erkannten Hausärztinnen und Hausärzte, dass eine psychische Störung vorlag; die Depression selbst wurde jedoch nur bei etwa 50 Prozent der Betroffenen als sicher diagnostiziert.
Seit den 80iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erleben Hausärzte eine deutliche Zunahme depressiver Störungen. Neben verbesserter Diagnostik sind ursächlich dafür veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die sich z.B. in fehlenden familiären und sozialen Bindungen, Zunahme von Arbeitslosigkeit oder der Entwurzelung von Migranten widerspiegeln.
Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die hausärztliche Praxis für vermeintliche oder tatsäch- lich depressive Patienten eine wichtige Schaltstelle ist. Dort wird geklärt, ob es sich bei den geschilderten unspezifischen Symptomen um Befindlichkeitsstörungen oder bereits um Begleitsymptome einer Depression handelt (Schlafstörungen, Appetitstörungen, Gewichtsabnahme, Lustlosigkeit, uncharakteristische Schmerzen). Das hausärztliche Gespräch, die so genannte kleine Psychotherapie, und begleitende Maßnahmen, etwa im Bereich der Physiotherapie, Entspannungstherapie oder soziale Beratungen scheinen in vielen Fällen ausreichend, um die Betroffenen aufzufangen. Wichtig ist die klinische Sensibilität des Arztes für psychische Auffälligkeiten seiner Patientinnen und Patienten. Sollte sich diese Behandlungsstrategie als nicht ausreichend erweisen, ist eine Kombinationsbehandlung der Depression in Betracht zu ziehen. Diese besteht aus Krisenintervention, Psychotherapie und Pharmakotherapie.
Der Umgang mit depressiven Patienten in der Praxis
Die Behandlung der Depression erfolgt in mehreren Behandlungsschritten: Diagnosestellung, Vermittlung eines dem Patienten verständlichen Krankheitsbildes, Aufzeigen von Behandlungsmöglichkeiten und nach Akzeptanz der Erkrankung Einbeziehung des Patienten in die Therapieplanung sowie Nachbehandlung und Rezidivprophylaxe.
Im Erstgespräch geht es zunächst um Vertrauensaufbau zum Therapeuten. Der Patient benötigt Empathie, Interesse und Anteilnahme, damit es ihm gelingt, auch belastende Lebensereignisse, Vorerkrankungen, familiäre Krankheitsbelastungen oder als schuld- und schamhaft erlebte Lebenssituationen zu artikulieren. Mit gezielten Fragestellungen ist die Diagnose meist nicht schwer zu stellen. Anschließend lässt man von den Patienten orientierende Fragebögen ausfüllen.
Die Akzeptanz der Diagnose ist für die meisten Patienten schwierig, sie nehmen eher eine organische Diagnose an, weil sie sich dadurch weniger stigmatisiert fühlen. Noch immer erleben Patienten seelische Erkrankungen vorwiegend als schuldhaftes Versagen und fürchten Tabuisierung und Ausgrenzung. Hier bedarf es zunächst eines Erklärungsmodells, das für die Patienten verstehbar und annehmbar ist. Der Therapeut benötigt die Bereitschaft, sich mit den Zweifeln und Widerständen der Patienten auseinander zu setzen. Die tiefe Verunsicherung der Betroffenen macht sie zu anstrengenden Patienten, insbesondere dann, wenn sie voller Misstrauen sind und keine Entscheidungen mehr treffen können. Sie grübeln, suchen nach Ursachen ihres eigenen Versagens und sind häufig voller Schuldgefühle. Unerlässlich ist daher, ihnen die Ursachen der Depression als multifaktorielles Geschehen zu verdeutlichen. Erklärungen, die die Depression als einen Ausdruck besonderer Verletzlichkeit (bedingt durch erbliche Veranlagung, durch Kindheitsbelastungen aber auch durch Stress, Überlastung und chronische Konflikte) entschlüsseln, können die Patienten sehr entlasten. Es ist wichtig zu vermitteln, dass oft die Menschen erkranken, die besonders engagiert und übergewissenhaft sind.
Die Akzeptanz einer Depression gilt als Meilenstein in der eigenen Krankheitsbewältigung und ist auch ein wichtiger Faktor für die Compliance. Die Patienten müssen lernen, sich nicht weiter an ihrem hohen Leistungsstandard zu messen, sondern dass sie selbst Geduld und Zeit brauchen, dass sie sich annehmen können, selbst wenn sie sich aktuell schwach, kraftlos oder ausgeliefert fühlen. Es geht auch um die philosophische Frage: „Wer bin ich, wenn ich nichts leiste?“, ferner um die Erfahrung, hilfebedürftig zu sein und Hilfe annehmen zu lernen. Entscheidend ist, dem Patienten in Erinnerung zu rufen, was er bisher in seinem Leben alles zu leisten vermochte und ihm zu versichern, dass er an diesen Erfahrungen wieder anknüpfen kann. Es ist sinnvoll, das der Patient lernt, mit Katastrophenerwartungen und negativen Gedanken umzugehen.
Hierbei ist auch die Frage nach Suizidgedanken wichtig. Es gilt abzuklären, wie konkret sich der Patient mit Selbstmord beschäftigt, wie unerträglich er seine Situation erlebt und ob er selbst noch die Kontrolle über sich zu haben glaubt. Hilfreich ist, Patienten direkt zu fragen, ob sie versprechen können, sich bis zur nächsten Sitzung nichts anzutun. Können sie diese Frage nicht eindeutig und klar mit ja beantworten, sollte man über eine stationäre Therapie nachdenken. Wichtig ist schließlich, eine Komorbidität mit Suchterkrankungen zu erfragen und gegebenenfalls zu behandeln.
Anschließend gilt es, dem Patienten verschiedene Therapiemöglichkeiten als multi-modales Angebot aufzuzeigen. Bei mittelschweren und schweren Depressionen ist eine zusätzliche medikamentöse antidepressive Therapie indiziert. Der Arzt sollte die Wirkweise der Medikation erklären, auf Nebenwirkungen eingehen und zur regelmäßigen Einnahme in ausreichend hoher Dosierung und über einen ausreichend langen Zeitraum ermutigen. Antidepressiva verursachen keine Sucht oder Abhängigkeit.
Sinnvoll sind darüber hinaus die Einbeziehung der Angehörigen und das Vermitteln von Selbsthilfegruppen sowie das Hinführen zu einer Form der Psychotherapie.
Je nach Krankheitsausprägung und Persönlichkeit sollte aus dem differenzierten psychotherapeutischen Angebot von stützender Psychotherapie, Krisenintervention, Aktivierung der Eigeninitiative wie Selbsthilfegruppen, Psychoedukation, über konflikt-zentrierte Kurzzeittherapie bis hin zu Gruppentherapie und Langzeittherapie (Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundiert oder analytisch) beraten und verordnet werden. Schwerpunkt der antidepressiven Psychotherapie sollten ein Wiederaufbau des Selbstwertgefühls sowie eine aktive Auseinandersetzung mit den belastenden Konflikten, der Umgang mit depressiven Symptomen und eine positive Zukunftsgestaltung sein. Der Patient muss lernen, seine eigenen Grenzen zu akzeptieren, wieder neuen Sinn im Leben zu finden, und eine gesunde Lebensplanung anzustreben.
Bei Nachbehandlung und Rückfallsprophylaxe lernt der Patient, Frühwarnzeichen zu erkennen und erarbeitet einen Rückfallplan.
Patienten müssen lernen, mit Depressionen besser umzugehen. Hierzu gehört, sich einen Arzt oder eine Ärztin des Vertrauens zu suchen, eine innere Balance mit einer gesunden Lebensführung anzustreben, aktiv das Leben zu gestalten, sich Ziele zu setzen, eigene Kraftquellen zu finden und sinnvollen Beschäftigungen nachzugehen, mehr auf eigene Bedürfnisse und Grenzen zu achten und sich selbst immer wieder kleine tägliche „high lights“ zu organisieren, die das Leben bereichern. Dazu passen ein guter Freundeskreis, Sport, ausreichende Bewegung und die Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins und Selbstzufriedenheit.
Trotz verbesserter Früherkennung und Behandlungsoptionen erhält aber derzeit nur etwa die Hälfte der Depressiven eine adäquate Therapie. Dies mag neben der fortbestehenden Tabuisierung von psychischen Diagnosen in unserer Gesellschaft auch in der unzureichenden Finanzierung der so genannten sprechenden Medizin und der Honorar-budgetierung im ambulanten Bereich liegen. Ärztliche Zuwendung wird weder in der hausärztlichen noch in der fachärztlichen Versorgungsebene ausreichend bezahlt. Es droht darüber hinaus ein Nachwuchsmangel vor allem bei niedergelassenen Fachärzten der so genannten PPP-Fächer. Erfreulicherweise wurde die medizinische Ausbildung in den Fächern Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in den vergangenen Jahren erheblich verbessert. Auch ärztliche Weiterbildung und Fortbildung werden ständig modernen Anforderungen angepasst. Künftige Hausärzte und Gynäkologen durchlaufen verbindlich in der Weiterbildung ein 80-Stunden-Fortbildungsmodul „Psychosomatische Grundversorgung“ und Balintgruppen. Es gibt entsprechende Leitlinien und eine nationale Versorgungsleitlinie. Vor allem aber versprechen die derzeit bundesweit initiierten Modelle der so genannten integrierten Versorgung eine wegweisende und zukunftsorientierte sozialpsychiatrische Betreuung depressiver Patienten.
Literatur
1. Alexander Mitscherlich - Krankheit als Konflikt / Studien zur psychosomatischen Medizin I Suhrkamp-Verlag Frankfurt/M. 1966
2. C.G. Jung. Über die Psychologie des Unbewussten, Rascher-Verlag, Zürich 1964
3. Stoppe,Bramesfeld,Schwartz - Volkskrankheit Depression? Bestandsaufnahme und Perspektiven, insbes. S. 39-98, S. 15-39, S. 257-277, S. 387-405, S. 423-447, Springer-Verlag Berlin/Heidelberg 2006
4. Depressions-Manual - Ahrens, Dryden, Faust, Faust et.al. -
Herausgeber: „Arbeitskreis zur Erarbeitung von diagnostischen und therapeutischen Empfehlungen zur Behandlung des depressiven Syndroms in der Hausarztpraxis“ i.A.v. u.i. Zusammenarbeit
mit dem Berufsverband der Allgemeinärzte Deutschlands - Hausärzteverband - e.V. (BDA) -Emstetten 2002
5. Gunther Kruse & Stefan Gunkel (HG.) - Impulse für die Psychotherapie Band 2 - Diagnostik und Psychotherapie depressiver Erkrankungen, Hannoversche Verlagsunion 1997
6. Schulte-Markwort & Resch - Trauma- Stress- Konflikt - Langeooger Texte zur Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter, Schattauerverlag Stuttgart 2004
7. Gesundheitszustand und ambulante medizinische Versorgung der Bevölkerung im Ost-West-Vergleich
Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland -Wissenschaftliche Reihe, Bd. 56, Köln 2002