Hundertjährige sucht Hausarzt
Herausforderungen der ambulanten Versorgung in Zeiten des demografischen Wandels
Statement von Dr. med. Cornelia Goesmann, Vorsitzende der Ärztekammer
Niedersachsen, Bezirksstelle Hannover am 26.09.2012 im Neuen Rathaus Hannover
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Seit 27 Jahren bin ich in Hannover, inzwischen mit zwei Kollegen, als Ärztin für
Allgemeinmedizin mit Zusatzbezeichnung Psychotherapie in einer typisch
hausärztlichen Praxis niedergelassen. Wir betreuen im Quartal zwischen 2.500 und
3.000 Patientinnen und Patienten, darunter rund 200 Patientinnen und Patienten, die
in Alten- und Pflegeheimen bzw. in ihrer eigenen Häuslichkeit hausbesuchspflichtig
geworden sind.
In diesen 27 Jahren hat sich ein deutlicher Wandel in unserem Patientenspektrum
dargestellt: Wir sehen eine dramatische Zunahme von alten und hochaltrigen
Patientinnen und Patienten mit verschiedensten chronischen Erkrankungen, d.h.
multimorbide Patientinnen und Patienten. Wir registrieren die ebenso deutliche
Zunahme der Notwendigkeit von Haus- und Heimbesuchen. Wir sehen eine
Abnahme der Arztzahlen, vor allem der Anzahl der Hausärztinnen und Hausärzte im
ländlichen, aber durchaus auch im großstädtischen Bereich. Dies wiederum führt zu
einer spürbaren Erhöhung der Patientenzahlen bei den verbleibenden Ärztinnen und
Ärzten in ihren Praxen, vor allem mit chronisch Kranken, Multimorbiden und
Pflegebedürftigen.
Wesentliche Aufgaben der Hausärztinnen und Hausärzte bei dieser sich
verändernden Patientenklientel sind vor allem: Mit den Alten und Hochaltrigen
gemeinsam Prioritäten bei ihren oft zahlreichen Erkrankungen und Therapien setzen,
die Medikamentenversorgung koordinieren, sichten und sortieren, eine Koordination
der Anliegen des Patienten und aller ihn Versorgenden incl. Pflegedienste schaffen
und insgesamt das Casemanagement für den alten Patienten realisieren.
Um in diesem Sinne die immer größer werdende Zahl alter und hochaltriger
Menschen auch bei einer abnehmenden Zahl von Hausärztinnen und Hausärzten
adäquat versorgen zu können, müssen in der Zukunft folgende Maßnahmen
getroffen und Projekte realisiert werden:
- Es gilt, Primärversorgungspraxen als Kooperation von Hausärzten mit allen
anderen beteiligten Berufsgruppen (Pflege, MFA, Physiotherapie,
Ergotherapie usw.) zu schaffen, diese in zentralen Orten anzusiedeln und für
sie Zweigpraxen in unterversorgten Regionen sowie wechselnde
Sprechstunden auch von Fachärzten in diesen Räumen zu realisieren.
- Zukünftig müssen Fachärztinnen und Fachärzte verschiedener patientennaher
Gebiete stundenweise Sprechstunden in dafür geschaffenen Räumen oder in
diesen Primärversorgungspraxen in wechselnden Regionen und zu
verschiedenen Sprechstundenzeiten abhalten.
- Es gilt, Transportsysteme für Patienten zu ihren Ärzten zu schaffen.
- Rollende Arztpraxen müssen in gänzlich unterversorgten Gebieten mit einem
Arzt an Bord Dörfer und Gemeinden aufsuchen.
- MONI (also das „Modell Niedersachsen“ zur Qualifizierung von in
Hausarztpraxen angestellten Medizinischen Fachangestellten) muss
landesweit ausgedehnt werden, auch auf Bereiche, die noch nicht
unterversorgte Gebiete sind. Diese qualifizierten MFA sollen Hausärztinnen
und Hausärzte bei ihrer Arbeit unterstützen, indem sie z.B. mit entsprechender
Qualifikation Hausbesuche fahren und Beratungstätigkeiten für ihre
Patientinnen und Patienten übernehmen.
- Die Kooperation von Hausärztinnen und Hausärzten mit ambulanter Pflege,
Physiotherapie, Sozialdienst, und z.B. Familienhebammen muss deutlich
verbessert und ausgeweitet werden.
- Es gilt darüber hinaus, telemedizinische Verfahren in die medizinische
Versorgung von Patientinnen und Patienten einzubeziehen.
1. Um genügend Hausärztinnen und Hausärzte für die Zukunft zu gewinnen,
müssen weiterhin alle Lehrstühle für das Fach Allgemeinmedizin an den
medizinischen Fakultäten so unterstützt werden, dass das Interesse der
Studierenden und ihre Kenntnisse über das Fach Allgemeinmedizin schon im
Studium geweckt und verbessert werden.
2. Die Förderung der Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin und eine
Niederlassung von Hausärztinnen und Hausärzten auch in unterversorgten
Regionen muss dringend unterstützt werden, hierzu gehört vor allem auch,
dass sämtliche Regresse für Ärztinnen und Ärzte abgeschafft werden.
3. Auch Geld spielt eine Rolle. Eine bessere Honorierung für Haus- und
Heimbesuche sowie das nötige Wegegeld gilt es zu schaffen.
4. Modelle zur kooperativen Heimversorgung von Hausärzten, Fachärzten und
stationärer Pflege sollten dringend gefördert und entsprechende
Modellversuche auch in Niedersachsen übernommen werden.
5. Auch im stationären Bereich gilt es, eine Unterstützung für alte und
hochaltrige Patientinnen und Patienten zu schaffen. So sollten diese nicht zu
früh entlassen werden, darüber hinaus wird empfohlen, Demenzbegleiter für
stationär untergebrachte demenziell erkrankte Patientinnen und Patienten zu
schulen und einzustellen.
6. Bei schwierigen Fragen der Patientenversorgung im hohen Alter (z.B. Legen
einer PEG, lebensverlängernde Maßnahmen, usw.) bietet die Ärztekammer
Niedersachsen, Bezirksstelle Hannover, eine Ethikberatung für alle
Betroffenen, auch für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte sowie für
Patientenangehörige an.