Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen
Die Behandlung von Patienten mit affektiven Störungen durch den Hausarzt
29.09.2012 in der MHH
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
in der letzten Woche suchte ich bei uns im Stadtteil eine neu
niedergelassene Augen.rztin auf, um meinen Augendruck
messen zu lassen. Am Ende der Konsultation erz.hlte sie mir,
dass ihr Bruder, der einen anderen Namen tr.gt, ein
langj.hriger Patient in meiner Praxis sei und ihr immer wieder
berichten würde, ich h.tte ihm einstmals das Leben gerettet.
Natürlich kann ich mich gut an den Bruder der Kollegin
erinnern, denn er hatte vor ca. 15 Jahren mitten in der Pubert.t
eine bipolare St.rung entwickelt. Es war damals sehr schwer
für mich gewesen, sowohl ihn als auch seine Eltern davon zu
überzeugen, dass eine sofortige und anschlie.end eine
dauerhafte entsprechende medikament.se Behandlung
notwendig seien. Wie etliche andere psychiatrische
Patientinnen und Patienten, denen ich als Haus.rztin die
Erstdiagnose einer schweren psychischen St.rung überbringen
musste, ist auch dieser Patient viele Jahre nicht mehr in
unserer Praxis zur Behandlung erschienen. Ich deute das als
schamhafte Reaktion darauf, dass diese Patienten von mir in
ihren schlimmsten Krankheitsphasen gesehen werden mussten
und sich in fast jedem Fall einer Behandlung entziehen wollten.
Haus.rztinnen oder Haus.rzte spüren und diagnostizieren in
den allermeisten F.llen als erste eine psychiatrische
Erkrankung, die aufgrund einer jahrelanger Patienten- Arzt-
Beziehung und der von uns so genannten „erlebten
Anamnese“. Hierbei ist das .bermitteln von den Diagnosen
wahnhafte St.rung oder manische Entwicklung natürlich am
schwierigsten und brisantesten. In der Regel finden sich
keinerlei Akzeptanz oder Einsehen bei den Betroffenen. Da
zumeist auch eine .berweisung zum Psychiater für den
Patienten keine akzeptable Alternative darstellt, bleibt den
Haus.rztinnen und Haus.rzten oft nur, gemeinsam mit den
Angeh.rigen auf eine Entgleisung der Erkrankung und eine
Zwangsbehandlung zu warten.
Anders stellt es sich bei Diagnostik und Therapie von
Depressionen und Angstst.rungen dar. Zun.chst einige Daten
hierzu:
Depressionen aller Schweregrade finden sich unter den
4 h.ufigsten Krankheiten weltweit. Die 12-Monats-Pr.valenz
von Angstst.rungen betr.gt derzeit 16,5 %, die der unipolaren
Depressionen 8,1 % und die der Bipolaren Depression ca. 2 %.
In der BRD betr.gt die Lebenszeitpr.valenz von Depressionen
42,5 % (weltweit nur ca. 30 %), d.h. fast die H.lfte aller
Deutschen erkrankt im Laufe des Lebens an einer depressiven
St.rung. Ca. 40 % aller F.lle von Frühberentungen, d.h. EURenten,
werden heute durch psychische St.rungen verursacht.
Wohin wenden sich diese seelisch Kranken? Hierzu gibt es
ganz unterschiedliches Zahlenmaterial. Nur 50 % der
Betroffenen überhaupt geben an, sich professionelle Hilfe
geholt zu haben. An einem normalen Arbeitstag erfüllen 11 %
der unausgelesenen Hausarztpatienten die Kriterien für eine
Major Depression. . dieser Patienten wurden von ihren
Haus.rzten als psychisch krank diagnostiziert, aber nur bei
50 % die Diagnose „Depression“ gestellt.
Andere Zahlen besagen, dass 70 % der Patienten, h.tten sie
eine Depression, sich zuerst an ihren Hausarzt wenden
würden. Der so genannte „Gesundheitsmonitor 2008“
erforschte bzgl. der Inanspruchnahme von .rzten bei
seelischen Krankheiten, dass 18 % den Hausarzt, 3 % einen
Psychotherapeuten, 5 % einen Psychiater aufzusuchen und
80 % überhaupt keine Hilfe in Anspruch nehmen würden.
Warum bleibt aber das Gerücht so hartn.ckig, dass Haus.rzte
bis zu 50 % depressiver Patienten nicht korrekt zuordnen und
behandeln würden?
Tats.chlich ist es so, dass viele Jahrzehnte lang Patienten mit
Depressionen aller Schweregrade und Angstst.rungen ihre
psychische Grundstimmung nicht als Grund für den
Praxisbesuch angegeben haben, sondern mit einem
k.rperlichen Symptom, der so genannten „Eintrittskarte für die
Praxis“ bei ihren Haus.rzten vorstellig geworden sind. Viele
Jahre war es offensichtlich für beide Seiten einfacher, die
psychosomatischen Symptome einer organischen Erkrankung
zu diagnostizieren und zu behandeln, den Patienten aufgrund
dessen krank zu schreiben, und nach angemessener Zeit auch
durch diese Ma.nahmen sowie durch stützende Gespr.che
und ggf. eine Therapie mit Psychopharmaka auf eine
Gesundung zu hoffen.
Inzwischen hat sich in der t.glichen Praxis ein deutlicher
Wandel in Auftreten und Behandlung von Depressionen und
Angstst.rungen ergeben. Stellte es bis vor wenigen Jahren
noch ein Tabu dar, wegen psychischer St.rungen vom Hausarzt
krankgeschrieben werden zu wollen, so sind inzwischen immer
mehr Patientinnen und Patienten bereit, ihre seelischen
Beschwerden einer Diagnostik und Therapie beim Hausarzt
zuzuführen.
Auch das verfügbare Zahlenmaterial belegt, dass psychische
und psychosomatische Erkrankungen immer h.ufiger
diagnostiziert werden und zu Arbeitsunf.higkeit führen. Obwohl
es in unseren Praxen so auszusehen scheint, als ob es eine
deutliche Zunahme an psychischen St.rungen g.be, so ist dies
ledigl ich der Effekt einer f rüheren und besseren
Diagnosestellung, weshalb ihr relativer Anteil an den
Behandlungs-, Reha-, AU- und EU-F.llen deutlich ansteigt.
Tats.chlich m.chten viele Patientinnen und Patienten mit
psychiatrischen Krankheitsbildern ihre Krankschreibung aus
Gründen der Diskretion lieber vom Hausarzt erhalten. Aufgrund
des Mangels an Psychiatern, vor allem im l.ndlichen Raum, an
ambulant t.tigen Psychotherapeuten und an Notfallpl.tzen in
psychosomatisch/psychotherapeutisch ausgerichteten Kliniken
übernehmen Haus.rzte immer mehr die Funktion von
Langzeitbehandlern und Case-Managern bei ihren
psychiatrischen Patienten. Vor allem bei Patientinnen und
Patienten mit affektiven St.rungen, mit dem so genannten
Burnout, bei psychosozialen und psychosomatischen
Problemen sind die langj.hrigen Haus.rzte in der Regel
diejenigen, die frühzeitig einen Behandlungsplan mit dem
betroffenen Patienten erarbeiten, besprechen und umsetzen.
Sie leiten die Psychopharmakotherapie und die Behandlung bei
einem Psychiater ein, sie helfen bei der Suche nach einem
ambulanten Psychotherapieplatz und sie unterstützen den
Patienten bei der Einleitung einer ambulanten, station.ren oder
beruflichen Rehabilitationsma.nahme oder einer Eltern-Kind-
Kur. Schlie.lich nehmen Haus.rztinnen und Haus.rzte als
Koordinator der Gesamttherapie Kontakt zu den anderen
Beteiligten wie MDK, Betriebsarzt, Nervenarzt, Reha-Klinik auf
und organisieren, wenn der Patient langsam gesund werden
und an eine Wiederaufnahme der Arbeit denken sollte, seine
stufenweise Wiedereingliederung in die Arbeit oder die
Umsetzung auf einen anderen Arbeitsplatz im Betrieb.
Sie alle wissen, dass es in diesem Prozess trotz allem
Engagement von Hausarzt und Psychiater zu erheblichen
zeitlichen Verz.gerungen kommen kann. So betragen in
Hannover die Wartezeiten auf einen Termin bei einem
niedergelassenen Nervenarzt in der Regel 8 – 12 Wochen auch
in schweren F.llen, die Einleitung einer ambulanten
Psychotherapie dauert bis zum Erstgespr.ch 2 - 4 Monate, bis
zum Antritt der endgültigen Psychotherapie sicherlich ein
halbes Jahr. Beantragt der Allgemeinarzt für seinen Patienten
eine Reha-Ma.nahme oder eine Eltern-Kind-Kur, so muss mit
Wartezeiten von mindestens 6 Monaten und einer
Ablehnungsquote von 35 % gerechnet werden.
Weitere Probleme stellen im Verlauf der Behandlung und
Rehabilitation von Patienten mit affektiven St.rungen für den
Hausarzt vor allem der hohe bürokratische Aufwand mit
unterschiedlichsten Antragsmodalit.ten und Formbl.ttern,
geforderte Zusatzqualifikationen für Haus.rzte, um überhaupt
Reha-Antr.ge für die GKV stellen zu dürfen, und eine schlechte
Honorierung für die umfangreichen administrativen und
koordinativen T.tigkeiten des Arztes dar. Dennoch ist in einem
Gro.teil der F.lle psychisch Kranker sein Hausarzt derjenige,
der Krankschreibung, Medikation, Führung des Patienten,
psychosomatische Gespr.che und Krisenintervention sowie
Wiedereingliederungs- und Arbeitsplatzberatung plus darüber
hinaus noch die Betreuung der betroffenen Familie übernimmt.
Da Haus.rztinnen und Haus.rzte in den letzten Jahren immer
mehr Aufgaben bei der Betreuung und Rehabilitation von
psychisch kranken Patientinnen und Patienten übernommen
haben, w.ren eine bessere Honorierung von Gespr.chs- und
Koordinierungs lei s t ungen im EBM sowi e ander e
Unterstützungsma.nahmen au.erordentlich hilfreich. Neben
Verhandlungen mit den Kassenverb.nden Niedersachsens
ü b e r H o n o r a r z u s c h l . g e f ü r p s y c h o s oma t i s c h -
psychotherapeutisch orientierte haus.rztliche Gespr.che
werden derzeit internetbasierte und verhaltenstherapeutisch
orientierte Onlineprogramme für Patientinnen und Patienten mit
leichten bis mittelschweren Depressionen und Angstst.rungen
erprobt. Sollten sich diese als medizinisch und menschlich
sinnvoll und erfolgversprechend erweisen, so k.nnten sie für
Patienten mit Internetzugang eine wichtige Hilfsma.nahme
darstellen um die Wartezeit auf einen Facharztbesuch oder den
Beginn einer psychotherapeutischen Behandlung zu
überbrücken.
Zusammenfassend l.sst sich sagen, dass Haus.rztinnen und
Haus.rzte weiterhin wesentliche Ansprechpartner und
Therapeuten bei psychiatrischen Erkrankungen und affektiven
St.rungen darstellen. Um dieser Funktion weiterhin gerecht zu
werden, müssen in der Weiterbildung zum Facharzt für
A l l g eme i nme d i z i n u n d i n d e r a n s c h l i e . e n d e n
Fortbildungsphase entsprechende Inhalte vermittelt und
anschlie.end konsequent bei umfassender Betreuung
psychisch Kranker durch den Hausarzt auch die n.tigen
Honorare durch die GKV bereitgestellt werden.